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5  Integration von Zeit in GIS

In einem herkömmlichen GIS kann die Realität nur zu einem festen Zeitpunkt dargestellt werden, wobei der Datenbestand zwar nach Einfüge- und Update-Operationen aus ver­schiedenen zeitlichen Bezügen stammen kann, aber eine Information zu Änderungen im Zeitablauf bzw. zu der Dynamik eines betrachteten Systems stehen nicht zur Verfügung. Jede dargestellte Entität verfügt nur über einen definierbaren Zustand, für den Veränderungen nur durch Überschreiben der vorhergehenden Eigenschaften festgehalten werden können. Der in der Literatur festzustellende Trend, Zeit als zusätzliche Dimension in GIS zu integrieren, läßt sich auf zwei Faktoren zurückführen: zum einen besteht auf der Anwenderseite die Forderung an das Modellierungswerkzeug GIS, geographische Phäno­mene nicht nur in ihrer räumlichen, sondern ebenfalls in ihrer zeitlichen Ausdehnung zu erfassen. Zum anderen ist es durch die Hardware-Entwicklung möglich, sehr umfang­reiche Datenmengen, wie sie bei zeitintegrativen Systemen zwangsläufig entstehen, wirt­schaftlich auf Sekundärspeichermedien zu verwalten (PEUQUET 1999, S. 91; PÁPAY 1998, S. 178).

5.1 Operationalisierung des Zeitbegriffs

5.1.1 Strukturelle Merkmale

Ein konzeptionelles Modell, das die Dynamik in geographischen Fragestellungen erfassen soll, muß den Begriff „Zeit“ derart operationalisieren, daß er in einem Computer­system implementierbar ist. Dazu müssen diejenigen Aspekte des abstrakten Begriffs ex­trahiert werden, anhand derer sich Zeit diskret abbilden läßt. Voraussetzung hierzu ist auf konzeptioneller Ebene die Feststellung, wie sich Zeit äußert und anhand welcher Merk­male sich temporale Bezüge festmachen lassen. LANGRAN (1992) verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff „Karthographische Zeit“ (cartographic time), um die spezifische Sicht auf das Thema „Zeit“ in einem GIS zu betonen: es geht nicht darum, das Wesen von Zeit an sich zu erklären, was der Philosophie und Physik vorbehalten bleibt, sondern die beobachtbaren Auswirkungen von Zeit in seinen wichtigsten Aspekten festzu­halten und vor allem in einem diskreten Datenmodell darzustellen (LANGRAN 1992, S. 28).

Als Ausgangspunkt der Betrachtung kann die Zielsetzung eines zeitintegrativen GIS dienen, d.h. welche zeitbezogenen Aspekte möchte ein potentieller GIS-Anwender unter­suchen. Unter dieser Prämisse lassen sich zwei grundsätzliche Ziele voneinander abgrenzen (PEUQUET 1999, S. 92):

  • In der statisch orientierten Sicht versucht man, Zustände anhand eines gegebenen Zeitpunktes oder Intervalls zu bestimmen. Beispielsweise möchte ein Historiker wis­sen, welche Flächen zu einem bestimmten Zeitpunkt zu welchem Staat gehörten und welche Einwohnerzahlen für diese Zeit erhoben wurden.

  • Die dynamisch orientierte Sicht zielt darauf ab, die Veränderungen aufzuzeigen, die sich innerhalb einer gegebenen Zeitspanne ergeben haben. Hiermit läßt sich nachvoll­ziehen, wie sich die Vegetation nach einem Waldbrand erholt und welche Pflanzen­arten sich in welchem Zeitraum über welche Fläche ausbreiteten.

Daraus läßt sich die Anforderung an ein räumlich-temporales GIS ableiten, daß sowohl verschieden Zustände als auch die Veränderungen, die dazu geführt haben, im System präsent sein müssen. Dazu ist es nicht zwangsläufig notwendig, beide Sachverhalte in ex­pliziter Form vorzuhalten, da es möglich ist, einen Aspekt aus dem anderen abzuleiten.

Ein Zustand läßt sich hinsichtlich seiner zeitlichen Eigenschaften derart charakterisieren, daß er im Gegensatz zu einem augenblicklichen Ereignis eine Ausdehnung besitzt. Ein Fakt, der den Zustand eines Objektes beschreibt, ist für ein Zeitintervall wahr, aber nicht vor und nicht nach dem Intervall. Ein Ereignis läßt sich dahingegen auf einen Zeitpunkt reduzieren, an dem es sich ereignet. Somit werden Zustände durch Ereignisse voneinander getrennt, wobei ein Fakt durch ein Ereignis wahr wird, für einen Zeitraum wahr bleibt und durch ein anderes Ereignis seine Gültigkeit verliert (JENSEN/SNODGRASS 1996, S. 3; ALLEN/ EDWARDS/ BÉDARD 1995, S. 405).

Eine in der Literatur häufig anzutreffende Meinung geht davon aus, daß das wesentliche Konzept für Zeit das der Veränderung ist. „The passage of time is important only because changes are possible with time. ... The concept of time would become meaningless in a world where no changes were possible.“ (SHOHAM/GOYAL 1988, zitiert nach WORBOYS 1998b, S. 2, Herauslassung durch WORBOYS) Daraus leitet sich ab, daß Veränderungen und damit verbundene Konzepte wie Ereignisse und Prozesse handhab­bare Konstrukte sind, um Zeit in einem Computersystem abzubilden (WORBOYS 1998b, S. 2).

Veränderungen können kontinuierlich verlaufen oder sich auf bestimmte Zeitpunkte be­schränken, zwischen denen die Eigenschaften unverändert bleiben. Die Bewegung eines Gletschers wird zu einzelnen Zeitpunkten registriert und die dazwischenliegenden Posi­tionen lassen sich interpolieren, um die stetige Bewegung zu erfassen. Administrative Grenzen dahingegen werden zu festen Zeitpunkten geändert, und dazwischen findet keine Veränderung statt (WORBOYS 1995, S. 310).

Strukturell betrachtet kann Zeit in einem einfachen linearen Grundmodell als eine total geordnete Sequenz beschrieben werden, die sich von der Vergangenheit über die Gegen­wart bis in die Zukunft erstreckt. Diese Struktur läßt sich modifizieren, indem diese Ord­nung lediglich partiell gefordert ist. Damit kann ein zeitlicher Verlauf mit Verzweigungen modelliert werden, in dem Zeit von der Vergangenheit bis zur Gegenwart ebenfalls als ein einzelner Zeitstrahl dargestellt ist, dieser sich dann aber für zukünftige Zeitabschnitte in separate Äste verzweigt. Jeder dieser Äste repräsentiert eine unabhängige Variante, die in der Zukunft realisiert werden könnte und zeitlich parallel zu den anderen Varianten ver­läuft (SNODGRASS 1992, S. 23). Diese Äste können für unterschiedliche Planungsalter­nativen stehen und sich selbst wiederum verzweigen, falls eine Planung in einem Teil­projekt nochmals alternative Varianten enthält (WORBOYS 1995, S. 309). Eine zyklische Struktur ergibt sich, wenn periodische Phänomene betrachtet werden. Beispielsweise kön­nen Vegetationsphasen oder der Gang der Jahreszeiten als Zyklen betrachtet werden, die iterativ entlang einer wiederum linearen Zeitachse ablaufen.(CHEYLAN/ LARDON 1993, S. 162; FRANK 1998, S. 53)

Abbildung 15: Zeitbezogene Strukturen



Quelle: Nach WORBOYS 1998a, S. 30, verändert

Betrachtet man Zeit modellhaft als eine eindimensionale Struktur, so lassen sich Zustände und die sie begrenzenden Ereignisse als Linien und Punkte darstellen. Dabei wird Zeit als eine Abfolge von Zuständen interpretiert, wobei ein Zustand durch ein Ereignis in einen Folgezustand überführt wird. Damit ist eine einfache Topologie gegeben, aus der benach­barte Zustände ableitbar sind (LANGRAN 1992, S. 32; VRANA 1990, S. 300).

Abbildung 16: Die Topologie kartographischer Zeit

 

Quelle: LANGRAN 1992, S. 33

LANGRAN (1992, S.32) unterscheidet hierbei zwischen Versionen und Mutationen ein­zelner Objekte einerseits, und bezieht das Begriffspaar Zustand und Ereignis andererseits auf die Summe der Einzelobjekte, die im Falle eines GIS eine Karte bilden.1 Damit sind Ereignisse die Summe aller zeitlich unterschiedlichen Objektmutationen, d.h. zwei gleich­zeitige Mutationen lassen sich auf ein Ereignis zurückführen (LANGRAN 1992, S. 33; vgl. Abbildung 16).

In BILL 1992 werden die äußerst unterschiedlichen Ansprüche an eine Zeitskala betont, die sich aus den jeweiligen Anwendungsgebieten ergeben. Geologen bearbeiten einen Be­reich von mehreren Millionen Jahren, Archäologen im Bereich von einigen tausend Jahren, Forst- und Landwirtschaftsanwendungen im Bereich von Jahrzehnten. Neben dieser Gruppe der langfristig veränderlichen Zustände beschränken sich Anwendungen mit mittelfristigen zeitlichen Bezügen auf Tage, Monate und Jahre. Höchste Anforderungen stellen Anwendungen mit einem Tageszyklus wie in der Meteorologie, bis hin zu Echtzeitanwendungen wie GPS-gestützten Steuerungssystemen (BILL 1992, S. 260; vgl. Abbildung 17).

Abbildung 17: Zeitliche Anforderungen verschiedener GIS-Nutzergruppen



Quelle: BILL 1996, S. 362

Präzisiert man diese Betrachtung, zeigt sich, daß dies nicht nur die Zeitspanne selbst be­trifft, die in einem Informationssystem abgebildet werden soll, sondern analog dazu auch das geforderte Auflösungsvermögen (Granularität), das die gewählte Zeitskala bietet. In einer geologischen Anwendung ist eine Auflösung in Minuten oder Sekunden unsinnig, während es in einem Navigationssystem unerläßlich ist.

5.1.2 Diskretisierung von Zeit

Im Allgemeinen wird Zeit als etwas unendliches angesehen: zwischen zwei beliebigen Zeitpunkten existieren immer noch andere Zeitpunkte. Dieses kontinuierliche Zeitmodell verhält sich isomorph zu den reellen Zahlen und enthält weder Sprünge noch undefinierte Abschnitte. Jede reelle Zahl entspricht einem Zeitpunkt, d.h. die Dauer ist gleich Null (SNODGRASS 1992, S. 23f.).

Ein diskretes Modell bildet Zeit auf die Menge der natürlichen Zahlen ab und ist damit total geordnet sowie abzählbar unendlich (RUF 1997, S. 89). Dies hat zur Folge, daß Zeit nicht mehr als eine Menge Punkte der Länge Null abgebildet werden kann, sondern in nicht mehr zerlegbare Zeiteinheiten mit einer Dauer größer Null. Dieses als Chronom be­zeichnete Atom ist die kleinste Zeiteinheit, die in einem diskreten Modell dargestellt werden kann (SNODGRASS 1992, S. 23f., TRYFONA/ JENSEN 1998, S.9).

Die diskrete Erfassung als Chronom bietet sich als Implementierungsstrategie für ein In­formationssystem an, da hiermit die endliche Darstellungsmöglichkeit in einem Computer berücksichtigt wird. Darüberhinaus entspricht es auch dem alltäglichen Umgang mit Zeit und deren Messung. Obwohl eine allgemeine Vorstellung von einem Kontinuum ausgeht, erfolgt die Angabe in Kalendern oder der Uhrzeit in diskreten Einheiten. Beispielsweise verbindet man mit der Zeitangabe „16:31 Uhr“ nicht die Vorstellung, daß ein Ereignis genau zu diesem Zeitpunkt eingetreten ist, sondern innerhalb der bezeichneten Minute. Der Unterschied zwischen diesen Systemen liegt in der Dauer eines Chronoms. Diese Granularität beträgt bei der Angabe eines Kalenderdatums einen Tag und Uhrzeiten wer­den üblicherweise mit einer maximalen Auflösung in Sekunden angegeben. Demzufolge dient das Konzept des Chonons als Raster, in das Zeitwerte eingeordnet werden (SNODGRASS 1992, S. 24). Die Verwendung eines Zeitgranulats bestimmt darüberhin­aus die Konvertierungsmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Zeitdimensionen. Bei einer monatsweisen Zeitangabe ist beispielsweise eine tagesgenaue Aussage nicht ohne zuvor vereinbarte Konventionen möglich, während der umgekehrte Weg von der feineren zur gröberen Variante direkt möglich ist, wenn entsprechende Informationen zur Synchronisierung vorliegen. Mit Hilfe dieser Aggregation auf eine gröbere Auflösung können Datenanalysen auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus durchgeführt werden (RUF 1997, S. 90).

5.1.3 Zeitangaben in einem diskreten Zeitmodell

Zeitangaben in einem diskreten Modell können mit Hilfe der Chronomen prinzipiell auf drei Arten erfolgen (RUF 1997, S. 90; SNODGRASS 1992, S. 24):

  1. Ein Zeitstempel referenziert direkt eine Basischronom der angegebenen Zeitdimen­sion. Damit wird ein Ereignis demjenigen Chronom zugeordnet, von dessen zeitlicher Ausdehnung es überdeckt wird. Dies hat zur Folge, daß bei entsprechend grober Auf­lösung mehrere Ereignisse, die sich in der Realwelt nacheinander ereignen, denselben Zeitstempel tragen und somit aus Sicht des Datenbanksystems zeitlich nicht mehr zu differenzieren sind. Um mit Hilfe von Zeitstempeln eine Gültigkeitsdauer darzustellen, muß eine Zustandsbeschreibung implizit bis zur nächsten, mit einem Zeitstempel markierten Beschreibung als gültig angenommen werden. Dabei besteht aber das Pro­blem, daß Unterbrechungen in der Lebensdauer eines Objektes über spezielle Markierungen deutlich zu machen sind.

  2. Durch ein Zeitintervall kann eine Gültigkeitsdauer direkt angegeben werden. Es um­faßt mehrere, unmittelbar aufeinanderfolgende Chronomen, die in einer verkürzten Form intensionell als eine Kombination aus Anfangs- und Endchronom darstellbar sind. Dabei können Intervalle durch absolute Angaben (z.B. „von 20.00 bis 20.15 Uhr“) oder durch den Bezug auf andere Zeitangaben relativ zu diesen definiert sein (z.B. „ab Ende ‚Sportschau‘ bis Anfang ‚Wort zum Sonntag‘“). Eine Sonderform stel­len Zeitspannen dar, die hinsichtlich ihrer Dauer festgelegt sind (z.B. „ein Jahr“), wäh­rend der konkrete zeitliche Bezug durch eine zusätzliche Verknüpfung herzustellen ist (z.B. „ab Anpfiff um 15.30 Uhr eine Halbzeit lang“).

  3. Zeitelemente stellen eine endliche Vereinigung von Zeitintervallen dar und sind unter Vereinigungs-, Durchschnitts- und Komplementbildung abgeschlossen, d.h. das Er­gebnis dieser Operationen ist wiederum ein Zeitelement.

Für Zeitintervalle lassen sich unterschiedliche Relationen zwischen zeitlichen Elementen angeben. Da sich ein Zeitstempel als einchronomiges Zeitintervall auffassen läßt, gelten diese Vergleichsrelationen auch für Beziehungen zwischen Zeitstempeln untereinander sowie zwischen Zeitstempeln und Zeitintervallen.

Abbildung 18: Vergleichsrelationen zwischen zeitlichen Elementen



Quelle: RUF 1997, S.91